Intimität – meine vorläufigen Forschungsergebnisse

Diesen Artikel habe ich erstmals am 4. Mai 2014 auf meinem alten Blog veröffentlicht.
Ich habe ihn leicht überarbeitet. 


Im Rahmen meiner Forschung zum Erfahrungsfeld „Sex“ bin ich auf ein sehr spannendes weiteres Erfahrungsfeld gestoßen: „Intimität“

Mir ist noch nicht so ganz klar, was es mit Intimität auf sich hat, aber ich will hier mal meinen Zwischenstand festhalten.

Sex und Intimität

Eine recht geläufige Umschreibung für „Sex miteinander haben“ ist „miteinander intim werden“ – so bin ich auf das Thema gekommen.
So wie „miteinander schlafen“ nur grob ausdrückt, was da passiert, scheint es mir auch bei „miteinander intim werden“ zu sein.
Ich glaube, dass Sex und Intimität nicht notwendigerweise was miteinander zu tun haben. Sex kann eine intime Begegnung ermöglichen – macht das aber nicht notwendigerweise. Und neben Sex gibt es wohl noch eine Vielzahl andere Möglichkeiten Intimität miteinander zu teilen.

„körperliche Intimität“

Sex ist eine Weise sich körperlich intim zu begegnen. Ich glaube, dass es die Möglichkeit gibt, sich in allen vier Dimensionen intim zu begegnen.

Deshalb will ich versuchen intime Begegnungen in der körperlichen Dimension klar als „körperliche Intimität“ zu bezeichnen, um mich daran zu erinnern, dass es auch sowas wie „geistige“, „gedankliche“ und „emotionale Intimität“ gibt.

Was ist Intimität?

Gelebte Intimität ist ein Zustand der Verbundenheit.
Wenn du spirituellen Ideen gegenüber aufgeschlossen bist, kennst du bestimmt die Idee, dass alles eigentlich eins ist. Eine intime Begegnung ist ein Hauch von diesem Eins-Sein-Zustand.

Menschen, die nicht zufällig erleuchtet sind, werden sich als Individuum wahrnehmen – so ist es jedenfalls bei mir.
Es fühlt sich für mich so an, als wäre ich alleine in meinem Körper und in meinen Gedanken. Abgetrennt von allen anderen Menschen.
Es gibt mein „Ich“ und es gibt noch ganz viele andere „Ichs“ da draußen; die nebeneinander existieren, aber miteinander wenig zu tun haben.

Ich glaube, dass das, was wir als Intimität bezeichnen, ein Schimmer von Verbundenheit ist, den wir erfahren, wenn wir es zulassen, ein bisschen weniger „Ich“ und ein bisschen mehr „Wir“ zu sein.

Neben den sichtbaren Grenzen unseres „Ichs“, gibt es noch unsichtbare Grenzen – die Grenzen unserer „Privatsphäre“.
In der körperlichen Dimension gibt es einen gewissen Abstand, der von fremden Menschen nicht unterschritten werden darf – sonst fühlen wir uns unwohl. Vertrautere Menschen dürfen vielleicht sogar Körperkontakt aufnehmen. Einige Körperstellen sind dabei „erlaubt“ und andere „verboten“ (Hände schütteln ist z. B. sehr neutral; Berührungen an den Unterarmen und am Rücken sind ok; Berührungen am Kopf, dem Bauch und dem Intimbereich sind aber nur wenigen Menschen vorbehalten).

In der gedanklichen und emotionalen Dimension gibt es Geschichten und Gedanken, die wir frei und offen erzählen und andere, die viel Vertrauen voraussetzen und nur selten oder nie geteilt werden.

Diese Privatsphäre ist unser Schutzbereich. Um den Bereich zu schützen bauen wir Mauern auf. Das kann z. B. ein aufgesetztes Lächeln sein, dass Trauer überspielt. Das können Floskeln sein, mit denen Fragen zu „privaten“ Themen überspielt werden. Das kann auch die Entfremdung vom eigenen Körper sein, um Berührungen als etwas anders werten zu können.

Es geht darum, nicht verletzlich zu sein und das „Ich“ zu schützen, um nicht verloren zu gehen.

Wenn diese Mauern gewaltvoll von außen eingerissen werden, dann ist das ein grausamer Übergriff. So ein Übergriff wird in gewissen Fällen als „Vergewaltigung“ bezeichnet – z. B. als körperlich-sexuelle Vergewaltigung. Übergriffe können aber auch in den drei anderen Dimensionen passieren.

Werden die Mauern aber friedvoll, von innen, aufgebrochen – ein Tor geöffnet – dann empfinden wir das als intime Begegnung.

Für eine intime Begegnung ist Mut nötig und Vertrauen. Wir machen uns Verletzlich und angreifbar. Wer weiß schon, ob nicht jemand ein trojanisches Pferd durch unser Tor schieben will und danach etwas schreckliches mit dem bisher gut geschützten „Ich“ anstellen wird.

Zu dem Zweck ist unsere Schutzmauer, wie die Schalen von Zwiebeln in vielen Schichten aufgebaut. Es wird Stück für Stück getestet, wie weit man Menschen an sich heran lassen will.

Je weniger Mauern zwischen den beiden „Ichs“ stehen, um so mehr „Wir“ kann stattfinden.

Intimität ist dabei keine „Ja-Nein“-Sache, sondern eine Skala vom „Ich“ zum „Wir“. Je mehr das „Wir“ zugelassen werden kann, um so intimer ist die Begegnung.
Besonders eindrucksvoll sind dabei Situationen, in denen die Intimität zunimmt. Wenn wir mit einer Person gerade neue Tore öffnen können.
Das ist oft aufregender, als Begegnungen mit Menschen, mit denen wir schon lange deutlich mehr Intimität teilen.
(vgl. dazu: Die ersten Küsse mit einer Person im Gegensatz zu dem routinierten nackt nebeneinander Zähne-Putzen und vor einander Pinkeln. Die zweite Situation erfordert sicher mehr Vertrautheit – die erste ist aber aufregender)

Beispiele für intime Begegnungen

Für viele Menschen ist gemeinsame Nacktheit etwas intimes. Die Schutzmauern aus Stoff wurden bei Seite gelegt und die Makel und Unperfektheiten der Körper werden sichtbar.
Durch Berührungen kann weiter die nun sichtbare Schutzschicht aus Haut erkundet werden.

Sex kann körperlich, aber auch emotional sehr intim sein. Nacktheit trifft auf große körperliche Nähe. Berührungen können tiefe Emotionen auslösen und mit gesteigerter Erregung wird es immer schwerer Masken auf zu behalten.

Ein intensiver Austausch von Ideen und Wünschen kann ein tiefes Gefühl der Geborgenheit hervorrufen. „Endlich jemand, der_die mich versteht.“
Auch „simple“ Ehrlichkeit in Situationen, in denen wir gewohnt sich die Unwahrheit zu erzählen, kann schon sehr intim sein.

Geborgenheit ist etwas, das meist mit geteilter Intimität einhergeht – nachdem Scham, Schuld, Unsicherheit und Zweifel überwunden wurden.

Intimität üben

Wie wohl fast alles, lässt sich auch Intimität üben.
Es lässt sich üben mit weniger Mauern aus zu kommen und mehr Vertrauen aufzubringen, um Tore zu öffnen.

Ich habe z. B. in den letzten beiden Jahren enorme Fortschritte gemacht mit meinem und fremden Körpern umzugehen. Früher wäre es fast undenkbar für mich gewesen mit jemandem entspannt und fröhlich Nacktheit zu teilen – inzwischen kann ich das sehr genießen.
Dadurch fällt es mir jetzt viel leichter ohne Schutzmauern aus Stoff auszukommen und auf die Weise in Kontakt zu gehen.

Auch in der gedanklichen und emotionalen Dimension habe ich mich an deutlich mehr Offenheit und Vertrauen gewöhnt und kann dadurch leichter Tore öffnen und Zugang zu Erfahrungen, Wünschen, Kränkungen und Bedürfnissen gewähren.

Dadurch, dass ich mit weniger Schutzschichten auskomme, fällt es auch den Menschen, mit denen ich in Kontakt gehe, leichter ihre Tore zu öffnen.
Es fühlt sich viel angenehmer an nackt zu sein (körperlich, aber auch geistig), wenn die andere Person bereits nackt, statt in Wintermontur bekleidet ist.

Bei intimen Begegnungen mit anderen geht es darum, ob das Vertrauen der anderen Person gegenüber ausreicht.
Wenn du aber grundsätzlich in der Lage sein willst intimere Begegnungen auszuhalten, dann geht es um Vertrauen zu sich selbst und dem Leben.
Es geht mal wieder um Selbstliebe …

Intimität mit sich selbst

Je vollständiger du dich selbst annehmen kannst, um so intimer ist dein Kontakt mit dir selbst. Das Erreichen einer neuen Tiefe, kann ein sehr intimer Moment sein.

Wenn du z. B. lernst mit deiner eigenen Nacktheit umzugehen, dich liebevoll selbst zu berühren, über lang gehegte Verletzungen weinst, lernst deine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen oder zum ersten Mal Grenzen setzt, die dich von anderen Menschen entfernen, dich dir selbst aber näher bringen.

Das Maß an gelebter Selbstliebe und das Maß an gelebter Intimität hängen vermutlich stark miteinander zusammen.
Je mehr du dir erlaubst so zu sein, wie du bist, je mehr bist du auch in der Lage dich so zu sehen, wie du bist – und je mehr kannst du es anderen Menschen erlauben dich so zu sehen.
Ohne diese Erlaubnis kannst du zwar Dinge machen, die scheinbar intim sind. Dann wirst du dabei aber vielleicht dissoziieren, also dich von dir selbst entfernen – dann ist zwar die Begegnung irgendwie näher an deinem Kern, aber du bist nicht mehr dort. Es gibt also kein Verbundenheitsgefühl.

Intimität mit mehreren Personen

Die meisten Menschen streben wohl nach Intimität. Dabei wird aber häufig an eine Zweier-Beziehung (Partnerschaft) gedacht. Also eine einzige Person, mit der ein großes Maß an Intimität geteilt wird.

Ich glaube, dass es schön ist, mit möglichst vielen Menschen möglichst intim zu sein. Das würde heißen, dass man vielen Menschen nah ist und sich vielen Menschen gegenüber authentisch(er) und vollständig(er) zeigen kann.
Gemeint ist dabei körperliche, geistige, emotionale und/oder gedankliche Intimität.
Wieso sollte Intimität nicht aus einer Haltung der Fülle heraus gelebt werden?

Mir ist allerdings noch nicht so ganz klar, was genau von den Schutzmauern geschützt werden soll – das innere Kind vielleicht? Möglicherweise ist es auch gut, da nicht so viele Leute hin zu lassen.
Ich vermute aber, dass das auch eine Sache von Übung und Vertrauen ist und es um so einfacher wird mit mehren Menschen nah zu sein, je vollständiger man mit sich selbst im Reinen ist.
Je weniger Mauern du grundsätzlich brauchst, um so leichter kannst du mit weiteren Menschen in Kontakt gehen.

Spannend finde ich auch die Frage, in wie fern es möglich ist, mit mehr als einer Person gleichzeitig intime Begegnungen zu erleben.

Folgendes könnten Beispiele dafür sein:
Intensive Gespräche im Freundeskreis, gemeinsame Kuschelrunden, sexuelle „Dreier“ und „Vierer“, Wohngemeinschaften und kleine Unternehmen, in denen eine gemeinsame Vision verfolgt wird.
Es mag aber sein, dass manche intime Tiefen am leichtesten zu zweit erreicht werden können.

Hilf mir bei meiner Forschungsarbeit

Hast du weitere Gedanken zum Thema Intimität?
Wodurch wird es leichter oder schwerer Intimität zu teilen?
Welche Beispiele kennst du für intime Begegnungen die in der gedanklichen, emotionalen und/oder geistigen Dimension statt gefunden haben?


Ein Wort, dass ich beim Überarbeiten des alten Artikels vermisse ist „Verletzlichkeit“.
Die Bereitschaft verletzt zu werden – also mit weniger Schutzmauern in einer Situation oder generell in der Welt zu sein scheint die Voraussetzung für Intimität zu sein.

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Sebastian ist Forscher und Suchender. Hier schreibt er, was er auf seiner Reise durch diese Leben schon alles entdeckt hat. Manchmal sind es gute Erkenntnisse, manchmal nur spannende Fragen. Auf dem Weg zu mehr Klarheit.

4 Gedanken zu „Intimität – meine vorläufigen Forschungsergebnisse

  1. Hallo Sebastian, toller Artikel.
    Wobei ich gerade das was „geschützt“ werden soll ein interessantes Thema finde. Ich denke nämlich auch dass die „Mauern“ zu einem gewissen Teil einen Sinn erfüllen 🙂 und ihre Berechtigung haben.

    • Ja, vermutlich ist das so.

      Für mich war dazu Almaas „Theorie der Löcher“ am spannendsten.
      Er sagt, dass wir in Wirklichkeit reine Essenz sind. In frühen Jahren (und auch später) können sich aber Löcher in dieser reinen Essenz bilden. Weil wir mal oder dauern von irgendwas zu wenig bekommen haben, Selbstzweifel usw. So ganz genau weiß ich noch nicht, wie die Löcher entstehen.

      Die Löcher zu spüren tut verdammt weh und fühlt sich verdammt ungut an.
      Deshalb neigen wir Menschen intuitiv dazu sie zu füllen. Mit allerhand Dingen, die wir später als unsere Persönlichkeit ansehen.
      Vorlieben, Süchte, Verhaltensmuster, Kompensationsmechanismen.
      Die wirkliche Lösung wäre die Löcher „trocken zu legen“, sie also nicht mehr einfach mit anderem Zeug voll zu stopfen. Die Löcher ein bisschen pur zu lassen. Dann schließen sie sich von selbst mit Essenz und wir werden wieder pur.

      Ich stelle mir vor, dass das, was wir da verbergen was mit den Löchern zu tun hat.
      Mit unserer Kaputt- und Unvollkommenheit.
      An diesen Stellen in unserer Existenz sind wir aber auch sehr verletzbar. Vermutlich sind deshalb auch Beziehungstrennungen oft so schmerzhaft – weil wir die andere Person an unsere Löcher ran gelassen haben und einige der Löcher mit der anderen Person gestopft haben (Ich hab selbst auch bemerkt, dass man das sexualisiert lesen kann. Macht aber nichts: Sex ist ein wichtiger Loch-Stopf-Dinger.)

      Die Schutzmauern sind vielleicht deshalb da und wichtig, weil wir an diesen Stellen super-krass-arg verletzlich/verletzbar sind. Wer deine Löcher kontrolliert, kann dir beliebig leicht Schmerzen zufügen.
      Ich stell mir vor, dass sich die Werbeindustrie auch fleißig an unseren Löchern zu schaffen macht. „Kauf diese Produkt, und du wirst die Leere in dir nicht so spüren.“

      Hast du Ideen, was wir so alles „geschützt“ halten?
      Was hältst du so geschützt?

      • Lieber Sebastian, ich bin durch den Liebeskunstnewsletter auf dich aufmerksam geworden & stöbere jetzt in deinem Blog. Du schreibst echt tolle Sachen, & du zeigst dich sehr, so weit das in diesem Medium möglich ist.
        Was die Intimität angeht, bin ich sehr bei dir, bin auch schon viele Schritte auf diesem Weg gegangen.

        Zum „Vom Ich zum Wir“, von dem du an mehreren Stellen schreibst, fiel mir gleich das Lied „When Shall I Be Free“ von Shpongle ein: https://www.youtube.com/watch?v=jQ1ozeRNLP8

        Und beim letzten Absatz deines Kommentars zur Werbeindustrie musste ich an das Bild der „Haken“ denken, das die Tolteken im Zusammenhang mit der Kunst des Pirschens verwenden, siehe dazu https://www.chimada.net/wp-content/uploads/2017/02/Kunst_des_Pirschens.pdf

        Aloha,
        Timo

  2. Lieber Sebastian,
    ich finde sich einzumauern nicht gut. Eine Mauer dient zum Schutz. Schutz vor Verletzungen. Diese Gefühle will ich nicht mehr erleben, bzw. spüren. Deshalb entsteht eine Mauer, als Schutz vor negativen Emotionen. Aber Gefühle sind immer da, positive und negative, sie gehören zum Leben dazu. Wenn ich nun eine Mauer um mich baue um keine negativen Gefühle an mich ran zu lassen, dann wehrt die Mauer gleichzeitig auch die positiven Gefühle ab. Das ist ein hoher Preis, denn damit werde ich langsam Gefühlskalt. Nicht kann mich mehr erschrecken und aus der Bahn werfen. Aber ist dass noch Leben? Oder nur zu funktionieren und zu vegetieren? Ich möchte mich nicht einmauern, ich möchte das Leben spüren, jede einzelne Empfindung. Ich habe keine Angst, denn ich weiß, das Leben meint es gut mit mir. Jede Erfahrung trägt dazu bei, der zu werden, der ich bin. Und egal was auch passiert, ich bin immer hier, ob ich lebe oder sterbe, ich bin immer Zuhause. Seit Beginn der Zeit und bis in alle Ewigkeit….

    Ciao
    Horst

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